Stopp dem sozialen Kahlschlag im Kanton Bern
Das Berner Kantonsparlament hat Kürzungen in der Sozialhilfe beschlossen. Am 19. Mai kommt es zur Abstimmung. Ein Volksvorschlag bietet die Alternative!
Text: Hasim Sancar, SozialAktuell Nr. 4 April 2019
Jede zehnte Person im Kanton Bern ist von Armut betroffen. Die rechtsbürgerliche Mehrheit im Parlament kümmert dies kaum. Sie portiert Steuergeschenke an Firmen und kürzt im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich massiv. Für die Sozialhilfe ist mit Kürzungen zwischen 8 und 30 Prozent ein regelrechter Kahlschlag vorgesehen. Ein Volksvorschlag bietet eine valable Alternative.
Im Kanton Bern sind zwischen 9 und 12 Prozent der Wohnbevölkerung von Armut betroffen oder gefährdet – und das in einem der reichsten Länder der Welt, ein Armutszeugnis. Die Politik muss dies ändern. Kapazitäten dafür gäbe es, doch es fehlt an Willen und an Interesse, die Verteilung der vorhandenen Mittel gerechter zu gestalten. Anstatt die Armut, werden die Armutsbetroffenen bekämpft, in der Hoffnung das Problem sei so zum Verschwinden zu bringen. Doch weit gefehlt: Armut ist Ausdruck einer fehlgeleiteten Politik. Es braucht gezielte Gegenmassnahmen. Der Kanton Bern tut also gut daran, Strategien zu entwickeln, die die Benachteiligten wieder ins Boot holen, statt sie mit harten Massnahmen und finanziellen Kürzungen noch mehr in die Isolation zu drängen. Im Moment sieht das Programm – leider – anders aus.
Steuerreduktion für Firmen?
Die nationale Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform III von 2017 wurde im Kanton Bern mit 68 Prozent schweizweit am deutlichsten abgelehnt. Dennoch hat das bürgerlich dominierte Parlament eine Vorlage des Regierungsrates verabschiedet, die eine Steuerreduktion für die grössten Konzerne bis 160 Millionen Franken vorsah. Dank dem Referendum von linksgrünen Parteien, Gewerkschaften und NGOs kam es im Winter 2018 zur Abstimmung. Das Resultat war eine Ohrfeige für den Regierungsrat und die bürgerlich-wirtschaftsliberalen Parteien: Die Stimmbevölkerung schickte die Steuerreduktion für die grössten Unternehmen mit 54 Prozent Nein-Stimmen deutlich Bach ab.
Zuschuss nach Dekret bereits abgeschafft
Die anti-soziale Politik des Parlaments ist also nichts Neues. So wurde auch der Zuschuss nach Dekret (ZuDe), ein zielführendes Instrument zur Integration von armutsbetroffenen Menschen, von dem jährlich 1000 Personen (u.a. 60% Frauen, viele Personen mit Behinderung) mit einem Betrag von drei Millionen Franken Gebrauch machten, vom Berner Kantonsparlament 2015 abgeschafft und diese öffentliche Aufgabe somit an NGOs delegiert. Weitere Entscheide bestätigen diesen Trend.
Quo vadis mit der Verbilligung für Krankenkassenprämien?
Um die Auswirkungen von Armut abzufedern, stellt der Bund Mittel für die Verbilligung von Krankenkassenprämien zur Verfügung, die Haushalten mit kleinem Budget zugutekommen. Die Kantone sollten sich mit eigenen zweckbestimmten Mitteln daran beteiligen und die Zusprachen an die Haushalte mit niedrigen Einkommen gewähren. Der Kanton Bern weigert sich jedoch, die nötige Summe einzuschiessen. Als der Bund seinen Anteil erhöhte, kürzte er seine Mittel sogar. Gegen diese Vorhaben ergriffen die linksgrünen Parteien und ein Bündnis sozial engagierter Organisationen das Referendum und gewannen die Volksabstimmung im Februar 2016. Die Situation betreffend die Prämienverbilligung hat sich trotzdem nicht entschärft. Der Kanton Bern verteilt 318 Millionen Franken als Prämienverbilligungen an 31 Prozent der Bevölkerung (schweizweiter Durchschnitt: 26%). Der Anteil des Kantons an den zur Verfügung gestellten Mitteln beläuft sich im Kanton Bern auf nur 20 Prozent. Somit bleibt er deutlich unter dem Landesdurchschnitt von 42 Prozent (2017). Es ist also nicht weiter erstaunlich, dass Bern aufgrund des jüngsten Bundesgerichtentscheids vom 22. Januar 2019 gegen den Kanton Luzern nun über die Bücher gehen und diese Praxis korrigieren muss.
Angriff auf SKOS-Richtlinien
Der Kahlschlag hat viele Facetten. Doch die Zustimmung des Berner Parlaments zur Vorlage der Regierung, welche die Kürzung des von den SKOS-Richtlinien empfohlenen Grundbedarfs um 8 bis 30 Prozent vorsieht, schlägt dem Fass den Boden aus. Die Beiträge für die Sozialhilfe, welche die SKOS empfiehlt, basieren auf jahrelangen praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Berechnungen. Danach beträgt der Grundbedarf für einen Einpersonenhaushalt im Kanton Bern 977 Franken, bei Mehrpersonenhaushalten ist der Betrag pro Person entsprechend der Grösse des Haushalts tiefer. Dieser Beitrag soll Kosten für Essen, Kleider, öffentliche Verkehrsmittel, Freizeit, Hygieneartikel, Strom- TV- und Telefonrechnungen decken. Eigentlich sind diese Beiträge bereits zu knapp bemessen. Die mit der Angebots- und Strukturüberprüfung ASP (2014) beschlossenen Kürzungen im Sozialbereich, im Gesundheitsbereich sowie im Bildungsbereich verschärfen die Situation zusätzlich. Das ist zynisch, denn der Kanton erzielt gleichzeitig jährlich einen Budgetüberschuss: 2013 waren es 320 Millionen Franken, 220 Millionen Franken im 2016. Doch anstatt den sozialen Bereich besser zu alimentieren, zieht es der Kanton vor, den Grosskonzernen grosszügige Steuergeschenke zu machen. Sparmentalität gegenüber den Schwachen und hofierende „Solidarität“ mit den wirtschaftlich starken, prägen die kantonale Finanzpolitik.
Entsolidarisierung der Gesellschaft
Geld macht Geld. Und so spitzt sich die ungerechte Verteilung der Vermögen zu. Um die Reichen noch reicher zu machen wird im Kanton Bern nach dem Prinzip „die Armen helfen den Reichen“ besonders heftig von Unten nach Oben umverteilt. Eine verkehrte Welt, eine unwirtliche Zeit für Armutsbetroffene! Die Präambel der schweizerischen Verfassung, die besagt, dass sich die Stärke einer Gesellschaft sich am Wohlbefinden der Schwächsten misst, mahnt zur Besinnung, bleibt aber unerhört. Ungerechte Verteilung von Macht und Kapital interessieren die rechtsbürgerlichen und neoliberalen Parteien wenig. Sie schliessen die Augen vor den gesellschaftlichen Zusammenhängen und nehmen zunehmende Entsolidarisierung in Kauf. Vielleicht ist das im Februar 2019 ebenfalls im Kanton angenommene neue Polizeigesetz ein Abbild dieser Haltung. Die Verantwortung liegt – so das Credo – ganz beim Individuum. Wer vom Rand der Gesellschaft den Sprung in die Eigenständigkeit nicht schafft, ist selber schuld. Die Bedeutung von Biographien, familiären Hintergründen, Arbeitsmarktverhältnissen wird unter den Teppich gekehrt.
Der Kanton Bern als schlechtes Vorbild?
Diese Abbaupolitik nach Berner Rezept hat nationale Signalwirkung. In anderen Kantonen (Baselland, Aarau) wurden bereits Vorstösse eingereicht, um den Grundbedarf in der Sozialhilfe bis 30 Prozent zu kürzen. Die auf Solidarität gebauten sozialstaatlichen Errungenschaften sind in Gefahr. Mittlerweile ist die die Sozialhilfebeziehenden schikanierende, stigmatisierende, bestrafende Politik salonfähig geworden. Bern macht den Laborversuch des Kahlschlags, die andern Kantone robben nach. Gegen diesen Kahlschlag hat ein Bündnis von politischen Parteien und Organisationen einen Volksvorschlag ausgearbeitet, über den am 19. Mai 2019 abgestimmt wird. Der Volksvorschlag will, dass die beschlossenen Kürzungen in der Sozialhilfe rückgängig gemacht werden. Zudem sollen die über 55-jährigen Ausgesteuerten gemäss den Richtlinien der Ergänzungsleistungen (EL) unterstützt werden. Die Hürde ist allerdings hoch: Sie müssen während 20 Jahren gearbeitet und Prämien für die Sozialversicherungen bezahlt haben, ausgesteuert sein, seit zwei Jahren im Kanton Bern wohnen und bei der Arbeitsvermittlung angemeldet sein. Zudem darf ihr Vermögen die Vermögensfreigrenze nach EL nicht überschreiten. Diese Unterstützung nach EL-Richtlinien für die Menschen im Alter von 55 Jahren und älter, die der Volksvorschlag möchte, kostet. Die von der zuständigen Gesundheits- und Fürsorgedirektion in ihrer Prognose gerechneten Mehrkosten waren astronomisch hoch und dermassen faktenfremd, dass sie für eine sachliche Diskussion, deren Grundlage sie vor der demokratischen Abstimmung eigentlich schaffen sollte, untauglich sind. Laut Expertenbericht müssten sie massiv nach unten korrigiert werden. Hat sich der Regierungsrat verschätzt oder führt er – in Hinblick auf die Abstimmung – absichtlich in die Irre? Verschwörungstheorien sind nicht angebracht. Eine Rückkehr zur sachlichen Diskussion und zu faktenbasierten Analysen ist aber – auch deshalb – dringend nötig.
Widerstand formiert sich
Die reichsten 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung besitzen 85 Prozent des Gesamtvermögens. Obwohl im Kanton Bern die Sozialhilfegelder bereits unter den national als verbindlich anerkannten SKOS-Richtlinien liegen, soll nun erneut bei den ärmsten 3.2 Prozent der Bevölkerung gespart werden? Da läuft etwas VERKEHRT . Doch es formiert sich Widerstand gegen diese Umverteilung von Unten nach Oben, gegen diesen Abbau des Sozialstaates und die Entsolidarisierung der Gesellschaft. So äussern sich die fünf grossen Gemeinden Bern, Biel, Burgdorf, Langenthal und Ostermundigen dezidiert gegen die kantonalen Pläne zur Kürzung der Sozialhilfe. „Stopp den Kahlschlag“ heisst die von Personen aus der Sozialen Arbeit im Kanton Bern lancierte Kampagne, die mittlerweile von einer vielfältigen Widerstandsbewegung getragen wird. Sie bietet dieser Spar- und Abbaupolitik lautstark die Stirn. Und sie braucht unser Mitwirken, damit Armutsbetroffene, Sozialarbeitende und Solidarisierende gemeinsam die geplanten Kürzungen in der Sozialhilfe im Kanton Bern verhindern und den Volksvorschlag durchbringen können.